Paul Feyerabend - Wider den Methodenzwang


Dies ist eine Abschrift des Inhaltsverzeichnisses, welches von Feyerabend in ganzen Sätzen (Thesen) ausformuliert wurde. Somit bietet das Inhaltsverzeichnis bereits einen guten Überblick über den ganzen Text.


Einleitung

Vernunft und Wissenschaft gehen oft verschiedene Wege. Ein heiterer Anarchismus ist auch menschenfreundlicher und eher geeignet, zum Fortschritt anzuregen, als "Gesetz- und Ordnungs-" Konzeptionen.

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Das wird sowohl durch eine Untersuchung historischer Episoden als auch eine abstrakte Analyse des Verhältnisses von Denken und Handeln gezeigt. Der einzige allgemeine Grundsatz, der den Fortschritt nicht behindert, lautet: Anything goes.

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Zum Beispiel kann man Hypothesen verwenden, die gut bestätigten Theorien und/oder experimentellen Ergebnissen widersprechen. Man kann die Wissenschaften fördern, indem man kontrainduktiv vorgeht.

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Die Konsistenzbedingung, nach der neue Hypothesen mit anerkannten Theorien übereinstimmen müssen, ist unvernünftig, weil sie ältere und nicht bessere Theorien am Leben erhält. Theorienvielfalt ist für die Wissenschaft fruchtbar, Einförmigkeit dagegen lähmt ihre kritische Kraft. Die Einförmigkeit gefährdet auch die freie Entwicklung des Individuum.

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Kein Gedanke ist so alt oder absurd, dass er nicht unser Wissen verbessern könnte. Die gesamte Geistesgeschichte wird in die Wissenschaft einbezogen und zur Verbesserung jeder einzelnen Theorie verwendet. Auch politische Einflüsse werden nicht abgelehnt. Sie sind notwendig, um den wissenschaftlichen Chauvinismus zu überwinden, der sich oft der Einführung von Alternativen zum Status quo widersetzt. Den Alternativen muss es aber erlaubt sein, sich zu vollständigen Subkulturen auszubilden, die nicht mehr auf Wissenschaft und Rationalismus beruhen.

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Keine Theorie stimmt jemals mit allen Tatsachen auf ihrem Gebiet überein, doch liegt der Fehler nicht immer bei der Theorie. Tatsachen werden durch ältere Ideologien konstituiert, und ein Widerstreit von Tatsachen und Theorien kann ein Zeichen des Fortschritts sein. Er ist auch ein erster Schritt bei unserem Versuch, die Grundsätze aufzudecken, die in den üblichen Beobachtungsbegriffen stecken und kann so ihre Untersuchung ermöglichen.

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Als Beispiel für einen solchen Versuch betrachte ich das Turmargument, mit dem die Aristoteliker die Erdbewegung widerlegten. Es enthält natürliche Interpretationen - Vorstellungen, die so eng mit Beobachtungen verbunden sind, dass es besonderer Anstrengung bedarf, ihr Vorhandensein zu erkennen und ihren Inhalt zu bestimmen. Galilei ermittelt die natürlichen Interpretationen, die Kopernikus behindern, und ersetzt sie durch andere.

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Die neuen natürlichen Interpretationen bilden eine neue und abstrakte Beobachtungssprache. Sie werden eingeführt und versteckt, so dass man die vollzogene Veränderung nicht bemerkt (Methode der Anamnesis). Sie enthalten den Gedanken der Relativität aller Bewegung und das Gesetz der Trägheit der Kreiselbewegung.

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Anfängliche Schwierigkeiten, die die Veränderung aufwirft, werden durch ad-hoc-Hypothesen entschärft, die also gelegentlich eine positive Funktion haben; sie verschaffen neuen Theorien eine Atempause, und sie deuten die Richtung der zukünftigen Forschung an.

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Außer natürlichen Interpretationen verändert Galilei auch Wahrnehmungen, die Kopernikus in Gefahr zu bringen scheinen. Er gibt das Vorhandensein solcher Wahrnehmungen zu, lobt Kopernikus dafür, dass er sie nicht beachtet hat, und behauptet, er habe sie mit Hilfe des Fernrohrs entfernt. Doch er gibt keine theoretischen Gründe für die Unzuverlässigkeit des Fernrohrs bei himmlischen Beobachtungen.

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Auch die ersten Erfahrungen mit dem Fernrohr liefern keine solchen Gründe. Die ersten Himmelsbeobachtungen mit dem Fernrohr sind undeutlich, unbestimmt, widersprüchlich und widerstreiten dem, was jedermann mit unbewaffnetem Auge sehen kann. Und die einzige Theorie, die teleskopische Illusionen von sachgerechten Eindrücken hätte unterscheiden können, war in Konflikt mit einfachen Tatsachen.

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Andererseits gibt es Fernrohrbeobachtungen, die eindeutig für Kopernikus sprechen. Galilei führt sie als unabhängige Daten für Kopernikus an; in Wirklichkeit ist es aber so, dass eine widerlegte Auffassung - die Kopernikanische - eine gewisse Ähnlichkeit mit Erscheinungen hat, die sich aus einer anderen widerlegten Auffassung ergeben - nämlich dass Fernrohrbilder getreue Abbildungen des Himmels seien. Galilei behält wegen seines Stils und seiner geschickten Überredungsmethoden die Oberhand, weil er auch in Italienisch und nicht nur in Lateinisch schreibt und wei er sich an Leute wendet, die gefühlsmäßig gegen die alten Ideen und die mit ihnen verbundenen Maßstäbe der Gelehrsamkeit eingenommen sind.

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Dieses "irrationale" Vergehen ist notwendig wegen der "ungleichmäßigen Entwicklung" (Marx, Lenin) der verschiedenen Teile der Wissenschaft. Der Kopernikanismus und andere wesentliche Bestandteile der neueren Wissenschaft blieben nur deshalb am Leben, weil in ihrer Geschichte die Vernunft oft überspielt wurde.

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Galileis Methode funktioniert auch auf anderen Gebieten. Man kann sie beispielsweise zur Ausschaltung der vorhandenen Argumente gegen den Materialismus verwenden und so das philosophische Leib-Seele-Problem beerdigen (die entsprechenden wissenschaftlichen Probleme bleiben dagegen unberührt). Dennoch ist ihre universelle Anwendbarkeit in den Wissenschaften noch kein Argument zu ihren Gunsten. Es gibt nämlich sowohl ethische als auch wissenschaftliche Gründe, die uns gelegentlich zwingen, ganz anders vorzugehen.

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Die Kirche zur Zeit Galileis hielt sich viel enger an die Vernunft als Galilei selber und sie zog auch die ethischen und sozialen Folgen der Galileischen Lehren in Betracht. Ihr Urteil gegen Galilei war rational und gerecht, und seine Revision lässt sich nur politisch-opportunistisch rechtfertigen.

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Galileis Untersuchungen waren nur ein kleiner Teil der sogenannten Kopernikanischen Revolution. Fügt man ihnen weitere wichtige Elemente hinzu, dann wird es noch schwieriger, den ganzen Vorgang mit rationalen Prinzipien in Übereinstimmung zu bringen.

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Auch der schafsinnige Versuch von Lakatos, eine Methodologie aufzustellen, die die historische Wirklichkeit der Wissenschaften ernst nimmt, sie aber doch aufgrund von in ihr selbst entdeckten Regelmäßigkeiten einer Kontrolle unterwirft, ist von dieser Folgerung nicht ausgenommen. Denn erstens gibt es die Regelmäßigkeit nicht, auf die sich Lakatos beruft - er idealisiert die Wissenschaften genauso wie seine Vorgänger -, zweitens wären die Regelmäßigkeiten, wenn es sie gäbe, Regelmäßigkeiten der Wissenschaften und also unbrauchbar zur "objektiven" Beurteilung etwa der Aristotelischen Philosophie, und drittens sind die Regelmäßigkeiten, so wie sie Lakatos verwendet, nur ein Aufputz, hinter dem sich ein im Grunde anarchisches Verfahren verbirgt.

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Außerdem sind die Maßstäbe von Lakatos nicht immer anwendbar. Sie setzen voraus, dass sich zwischen Sätzen, die verschiedenen Forschungsprogrammen entspringen, immer Beziehungen herstellen lassen. Aber die Gehaltsklassen von alternativen wissenschaftlichen Theorien sind oft unvergleichbar in dem Sinn, dass sich keine der üblichen logischen Beziehungen (Einschließung, Ausschließung, Überschneidung) zwischen ihnen herstellen lassen. Eine solche Unvereinbarkeit besteht sicher zwischen Mythen und wissenschaftlichen Theorien. Man findet sie wieder in den fortgeschrittensten, allgemeinen und daher mythologischsten Teilen der Wissenschaften selbst.

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Die hier vorgetragenen Gedanken sind nicht neu. Sie finden sich bei den klügeren Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts. An die Stelle dieser Gedanken tritt mit dem Wiener Kreis ein neuer philosophischer Primitivismus. Popper beseitigt einige Schwierigkeiten dieser primitiven Philosophie, bringt sie aber der Praxis der Wissenschaften um keinen Schritt näher.

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Es gibt also keinen klar formulierbaren Unterschied zwischen Mythen und wissenschaftlichen Theorien. Die Wissenschaft ist eine der vielen Lebensformen, die die Menschen entwickelt haben, und nicht unbedingt die beste. Sie ist laut, frech, teuer und fällt auf. Grundsätzlich überlegen ist sie aber nur in den Augen derer, die bereits eine gewisse Position bezogen haben oder die die Wissenschaften akzeptieren, ohne jemals ihre Vorzüge und Schwächen geprüft zu haben. Und da das Annehmen und Ablehnen von Positionen dem einzelnen oder, in einer Demokratie, demokratischen Ausschüssen überlassen werden sollte, so folgt, dass die Trennung von Staat und Kirche durch die Trennung von Staat und Wissenschaft zu ergänzen ist.