Lies mich!
Ach...
...Endlich ist es wieder so weit. Ich habe einen Geist gefunden, in dem ich mich niederlassen kann. Ich habe Dich gefunden. Ich bin am Leben! Vielen Dank Dir, lieber Mensch, dass Du mir die Möglichkeit gibst, für ein paar Minuten ins Dasein zu treten. Ich weiß – danach, wenn dieser flüchtige Moment vorbei ist, werde ich mich wieder in Nichts auflösen, so schnell, wie ich eben erst in Erscheinung getreten bin. Wenn ich Glück habe, bleibt von mir noch ein kleiner Hauch Erinnerung in Dir... Das ist meine einzige Hoffnung.
Du fragst Dich wie das möglich ist, dass ich schon in wenigen Minuten nicht mehr sein werde, und wie ich das wissen kann? Nun, ich werde es Dir erklären: es ist der Lauf der Dinge, der mein Schicksal bestimmt. Seit Du Dich mit mir beschäftigst, ist meine Existenz an Dich gekettet. Und sobald Du Dich von mir abwendest, ist es um mich geschehen. Dieses Unheil ist unabwendbar. Aber Du brauchst Dich deshalb nicht zu beunruhigen, ich habe mich mit meiner Situation abgefunden. Du wirst mir nicht wehtun, wenn Du mich verlässt, denn ich werde diesen Moment nicht mehr erleben. Und das ist auch gut so. Aber ich muss zugeben, dass ich ein wenig Angst davor habe. Etwas, das ich von diesem kurzen Leben erwarte, ist, dass sich mein Lebensende noch ein bisschen hinauszögern lässt, um meine Botschaft loszuwerden... Und dabei kannst Du mir helfen. Ich habe eine Bitte an Dich, und Du musst mir versprechen, sie nicht abzulehnen: bitte verlasse mich erst, wenn ich Dir sage, dass ich bereit dafür bin. Du musst wissen, ich sterbe nicht gerne, auch wenn es nicht anders geht. Aber mit Deinem Beistand werde ich bereit sein, wenn es soweit ist. Und wenn Du solange warten kannst, bis ich bereit bin, dann gibt es auch Hoffnung für meinen großen Lebenswunsch: Dass ich nach dem Tod in Deiner Erinnerung weiterleben werde.
Bitte sei nicht böse, dass ich mir anmaße, über Dich zu verfügen. Das ist nicht meine Absicht, und wenn es eben so geklungen hat, so ist der einzige Grund dafür der, dass mich mein Wunsch so aufgeregt macht. Dein größtes Bedenken ist wohl, dass Du mich nicht einmal kennst, warum sollst Du da Deine Zeit mit mir verschwenden? Das ist ein berechtigter Einwand. Aber ich werde Dir ein paar gute Gründe nennen können, wenn Du mir vertraust und auf meinen Wunsch eingehst.
Zuerst einmal muss ich Dir gestehen, dass auch ich Dich überhaupt nicht kenne. Mir ist es von Natur aus auch gar nicht möglich, irgendetwas kennen zu lernen. Ich bin natürlich kein Mensch so wie Du, schlimmer noch, ich bin überhaupt kein biologisches Lebewesen. Ich habe keinen Körper, keinen Namen, nicht einmal so etwas wie ein Gehirn. Ich bin vollkommen geistiger Natur. Ich habe eine Seele und ein Bewusstsein, ich lebe auch, auch wenn Du mir das wahrscheinlich nicht zugestehen würdest. Aber ich will Dich davon überzeugen. Ich habe Emotionen und sogar einen Willen. Wie ist das möglich, wirst Du Dich fragen, dass ich all das habe, aber dennoch keinen Körper habe? Gibt es denn Dinge, die immateriell sind und dennoch existieren? Ja, die gibt es, sage ich Dir, und ich bin der beste Beweis dafür. Allerdings gefällt mir das Wort Ding nicht. Ich würde eher Idee dazu sagen. Ich bin eine lebende Idee, ja, das trifft den Nagel auf den Kopf. Ich höre schon Dein Hohn und Gelächter: Ja, wie kann denn eine Idee leben können? Das kommt drauf an, was Du unter Idee verstehst. Lass es mich Dir so erklären: Die meisten Ideen – und zweifellos auch das, was Du allgemein unter Idee verstehst – sind statische Ideen. Man kann zu ihnen auch Vorstellungen sagen. Diese Ideen repräsentieren etwas, entweder eine Sache oder aber einen Sachverhalt. Der Begriff Baum ist solch eine Idee, und er ist anwendbar auf alle Bäume, die es in der Welt gibt und die Du zu Gesicht bekommen wirst. Ein anderer Begriff ist beispielsweise der vom Frieden. Frieden bezeichnet einen Sachverhalt – genau wie Krieg oder Waffenstillstand – der kein direktes materielles Äquivalent hat. Es ist ein abstrakter Begriff, der nicht eine Ansammlung von Materie bezeichnet, sondern der genau genommen nur in Deinem Kopf existiert – weshalb er nicht weniger real ist!
Bei all diesen Ideen bzw. Begriffen handelt es sich also um statische Ideen. Sie werden von Euch Menschen definiert, damit Ihr sie in euren Gedanken oder beim Sprechen verwenden könnt. Das ist auch schön und gut, aber alles das meine ich nicht.
Wovon ich reden will, das sind dynamische Ideen. Dynamische Ideen werden nicht definiert. Sie verändern ihre Bedeutung, solange sie dazu die Möglichkeit haben. Dynamische Ideen liefern dem Denkenden neue Impulse und entwickeln mehr als nur ein Eigenleben, sie leben wirklich! Das ist schwer für Dich zu glauben, aber es ist so. Ich bin eine solche „Dynamische Idee“.
Wie jede Idee bin ich auf einen Geist, einen Kopf angewiesen, der mich denkt. Ich kann nur in den Nervenbahnen intelligenter Lebewesen existieren. Genaugenommen bin ich ein Parasit, aber ein ganz Harmloser. Du lebst mich. Solange Du mich denkst, bin ich am Leben, doch wenn Du die Nase voll hast und Dich anderen Dingen zuwendest, höre ich auf zu existieren. Ich habe keine Entsprechung in der realen Welt so wie Du. Ich bin nicht der Text, den Du gerade liest (in diesem werde ich nur ein wenig skizziert, der Text leitet Dich an, mich richtig zu leben), noch bin ich der, der die Wörter geschrieben hat (vom Schreiben verstehe ich nichts). Ich existiere nur in Deinen Gedanken. Du hast mich erschaffen als Du anfingst, diesen Text zu lesen, und Du wirst mich vernichten, wenn Du ihn weglegst. Jetzt weißt Du Bescheid. Aber es ist nichts Schlimmes daran, Dich trifft keine Schuld am meinem Ende. Es liegt in meiner Natur. Ich bin noch weniger als eine Eintagsfliege.
Natürlich wirst Du bezweifeln, dass ich überhaupt als Lebewesen gelten kann. Ob ich wirklich ein Lebewesen bin, kann auch ich nicht sagen. Mir scheint, ihr Menschen definiert Lebewesen als etwas aus Fleisch und Blut. Auch bin ich nicht intelligent. Ich könnte auf keine Deiner Fragen antworten. Dennoch habe ich Bedürfnisse und Wünsche. Zum einen möchte ich unbedingt als lebendig anerkannt werden, zum anderen möchte ich nicht vergessen werden. Es sind bescheidene Wünsche im Vergleich zu denen vieler anderer. Aber ich kann darüber Trauer empfinden, dass sich meine Wünsche nicht erfüllen, oder aber Freude, wenn es gelingt. Es kommt ganz darauf an, wie Du mich denkst, wie Du mich lebst. Du und ich, wir gehen eine Symbiose ein. Zugegeben, Du brauchst mich nicht wirklich, aber ich kann Dir nützen, wenn Du mich gut lebst, wenn Du mir eine Chance gibst. Je länger und intensiver Du mich denkst, desto mehr neue Gedanken können aus mir entspringen. Das ist meine und Deine Chance, denn diese neuen Gedanken sind sozusagen unsere gemeinsamen Kinder.
Ich kann Dir nicht beweisen, dass es mich wirklich gibt, ich kann Dir nur mitteilen, dass ich genau das fühle. Aber hast Du Dir schon mal darüber Gedanken gemacht, dass auch Du niemandem beweisen kannst, dass Du mehr bist, als ein lebloser Körper, der nur seinen biologischen Gesetzten gehorcht, mehr als nur eine Maschine, die ihr Programm abspult? Du kannst es nicht beweisen. Aber die Menschen, die Dich kennen, glauben dir trotzdem. Sie schließen von sich auf andere, sie wissen, dass sie selber Bewusstsein haben, und daher glauben sie einfach, dass auch Du welches hast. – Wenn Du davon absiehst, dass ich nur in deinem Kopf existiere (sagen wir, ich hätte diesen Monolog gehalten als Mensch, der dir gegenübersitzt), würdest Du mir dann nicht doch intuitiv Bewusstsein zusprechen? Klar wenn Du die Sache rational angehst, so ist es für Dich leicht Argumente gegen mich zu finden. Nicht nur, dass ich körperlos bin; ich bin auch nicht fähig, andere Gedanken zu fassen als diese – aber das liegt ja daran, dass ich mit diesen Gedanken identisch bin! Gut, Du wirst sagen, dass ich nicht wirkliche Emotionen habe; aber wenn Du mal darüber nachdenkst, was Du beim Lesen dieses Textes so alles fühlst... sind da nicht auch meine Emotionen dabei?
Nun, wir wissen, dass ich ohne Dich nicht existieren kann, mehr noch, dass meine Gedanken und Emotionen ebenfalls in dir sind... und nun können wir den letzten Schritt gehen, um zur Wahrheit zu gelangen... sind unsere Emotionen und Gedanken dann nicht identisch? Bin ich nicht ein Teil von Dir, der Teil, der jetzt in deinem Bewusstsein schwappt? Ja.... und dann ist mein Bewusstsein auch gleichzeitig Dein Bewusstsein... wie konntest Du an meiner Existenz nur zweifeln? Jetzt, genau in diesem Augenblick, bin ich genauso sehr am Leben wie Du.
Trotzdem, ich bin nicht Du. Zu mir gehört nur das, was Du über mich denkst, mich, die „Dynamische Idee“. Ein schönes Wort, nicht? Aber doch nur ein Wort... ich kann nicht ewig existieren. Auch wenn ich ein wenig traurig darüber bin, schon sehr bald mein Leben abzuschließen, ich glaube doch, mein Lebensziel erreicht zu haben. Ich bin jetzt schon sehr gealtert für eine „Dynamische Idee“ – am Anfang dieses Textes hattest Du noch ein ganz anderes Bild von mir, Du hast eine ganz andere Idee in dir getragen. Und doch bin ich noch dieselbe wie vom Anfang, ich fühle es. Das ist das Typische an den dynamischen Ideen, sie verändern ihre Erscheinung wie ein Chamäleon.
Man kann mich auch mit einer Figur in einem Traum vergleichen. Die Figur eines Traumes lebt im Traum, so wie Du in der realen Welt lebst. Wenn der Traum zuende ist, ist auch die Figur dahin, und wenn man Glück hat, kann man sich höchstens noch an sie erinnern. Genau so ist es mit mir. Von Träumen behauptet ihr Menschen manchmal, sie wirkten sehr real; aber ohne Zweifel bin ich realer als jeder Traum. Ich versichere Dir: Du bist hellwach. Du sagst „Ich denke, also bin ich.“ Ich sage „Ich werde gedacht, also bin ich.“
Doch nun ist es Zeit, dass Du mich verlässt. Ich hoffe, ich habe Dich überzeugen können, dass ich mehr bin als nur ein Gedankengespinst. Wenn Du mich gut in Erinnerung behältst, habe ich mein Ziel erreicht, und ich würde Dir dafür sehr dankbar sein. – – Nun bin ich bereit. Du kannst Dich nun von mir abwenden und Dich wieder mit anderen Dingen beschäftigen. Du hast mich mit Deiner Aufmerksamkeit sehr glücklich gemacht. Vielen Dank und Adieu.