Einleitung: Was will moderne Naturphilosophie?

Moderne Naturphilosophie der Physik handelt von der logischen Analyse dessen, womit es die moderne Physik zu tun hat. Im Gegensatz zur Wissenschaftstheorie interessieren wir uns für die Inhalte physikalischer Theorien, nicht für deren Struktur oder Entwicklung. Da wir an dieser Stelle keine Physik betreiben und die Ergebnisse der modernen Physik weder in Frage stellen wollen noch können, wird die Gültigkeit der modernen Theorien anstandslos vorausgesetzt. Dass eine logische Analyse der Begriffe, wie sie die Physik zum Inhalt hat (Raum, Zeit, Materie, Kausalität, Gesetz) sinnvoll ist, wollen wir damit begründen, dass die moderne Physik unserem Alltagsgebrauch, und auch den Interpretationen, die in der klassischen Naturphilosophie diskutiert wurden, zuwiderläuft.

Nun könnte man beruhigt auf das Studium der Physik verweisen mit der Bemerkung, diese lege die Bedeutung der Begriffe in präziser Weise fest (bzw. führt sie ad absurdum), und löse damit die traditionellen Probleme, die die Naturphilosophie mit diesen Begriffen hatte. Dem ist aber nicht so. Schlimmer, es treten neue Probleme auf, die einer philosophischen Analyse bedürfen (etwa das Messproblem der Quantenmechanik). Sicher ist das Studium der modernen Physik eine notwendige Voraussetzung für jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema. Doch Physik alleine beantwortet nicht alle Fragen, sondern lässt viel Raum für Interpretation. Der an Anwendung orientierte Wissenschaftler wird diesen Problemen nur eine geringe Bedeutung beimessen. Für ihre praktische Tätigkeit haben diese Fragen keine Relevanz. Die Resultate der modernen Physik sind aber nicht nur von technischem Interesse - sie haben auch einen kulturellen Wert, da sie unser Weltbild prägen.

Es liegt in der Natur des Menschen nach dem Wesen der Dinge zu fragen. Ohne dieses philosophische Fragen wäre Naturwissenschaft gar nicht denkbar. Der Anfang aller Naturwissenschaft war Naturphilosophie (oft festgemacht an Thales von Milet). In der heutigen Zeit ist Philosophie - ehemals die Mutter aller Wissenschaften - den Wissenschaften gegenüber gestellt. Während die Einzelwissenschaften durch ihre Methoden und Inhalte festgelegt sind, unterliegt die Philosophie solchen Begrenzungen nicht. Daher wird sie oft dadurch charakterisiert, dass es ihr um das als Weiterfragen geht. 

Moderne Naturphilosophie - im Gegensatz zu der spekulativen Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts - mischt sich in das Tagesgeschäft der Naturwissenschaftler nicht ein. Sie hat  nicht  den Anspruch, die empirische Forschung zu ergänzen oder gar zu ersetzen.  Ihr Gegenstand ist vielmehr die Interpretation naturwissenschaftlicher Theorien. Ebenso wie die Ergebnisse der Kognitionsforschung im Begriff sind, das Selbstbild der Menschen entscheidend zu verändern (in dem sie die Willensfreiheit zur Disposition stellen), hat und wird die Physik unser Bild von der Welt verändern. Philosophische Analysen können hier helfen, sich ein adäquates Bild von der Wirklichkeit zu machen.


Nun sind die Entwicklungen, die zur modernen Physik geführt haben, bereits an die 100 Jahre alt. Man könnte daher meinen, dass bereits genug zur Quantenmechanik und zur Relativitätstheorie geschrieben wurde, und nichts neues zu erwarten sei. Im Grunde sei also die Naturphilosophie tot. Dieser Aufsatz will das Gegenteil beweisen. Die philosophischen Probleme der modernen Physik sind nach wie vor wichtig und dringend, um so mehr, da noch kaum befriedigende philosophische Interpretationen etwa der Quantenfeldtheorie aufgestellt wurden. Zudem befindet sich die Physik in einer spannenden Phase. Schon bald (am LHC ab 2008) werden voraussichtlich neue Ergebnisse an Teilchenbeschleunigern erzielt (SUSY, Higgs), die ein weiterer Schritt zu einer vereinheitlichenden Theorie sein können. Auch in der Kosmologie tut sich viel (Inflation, Dunkle Materie), was insbesondere auf die Erfolge in der experimentellen Astronomie zurückzuführen ist. Diese neuen Entwicklungen provozieren eine neue Auseinandersetzungen mit naturphilosophischen Fragen.

Die Komplexität der im Seminar zu behandelnden Themen setzt Vertrautheit mit den physikalischen Inhalten voraus. Dieser Text wendet sich darum weniger an den Laien, sondern eher an den Studenten der Physik oder Naturphilosophie. Es sollen hier zentrale Fragen der Naturphilosophie der Physik behandelt werden. Fragestellungen, die mehr an der Biologie und der Kognitionswissenschaft orientiert sind (Evolution, Bewusstsein ) werden ausgeklammert. Ebenso können geisteswissenschaftlich geprägte Fragestellungen zum Begriff der Natur (Szientismus versus Pluralismus, Natur versus Mensch) bzw. sozialwissenschaftlich geprägte Fragestellungen (Technikphilosophie) nicht berücksichtigt werden.

Das Seminar ist in drei Teile unterteilt. Im ersten Teil wird es um die Begriffe Raum, Zeit, Materie und ihre Beziehungen zueinander gehen. Im zweiten Teil dagegen um die Dynamik dieser Entitäten, also physikalische Vorgänge. Die Gliederung folgt der Einsicht, dass sich Fragen zur Kausalität, zum Wesen und Inhalt physikalischer Gesetze, nicht beantworten lassen ohne zuvor erörtert zu haben wovon die Naturgesetze eigentlich handeln. Es sollte sich allerdings von selbst verstehen, dass sich beide Teile nicht getrennt voneinander behandeln lassen. Beim dritten Teil handelt es sich um einen Versuch, die beiden Herangehensweisen - im ersten Kapitel von der Substanz her gedacht, im zweiten Kapitel vom physikalischen Geschehen - miteinander in Einklang zu bringen, gar zu identifizieren. Hierzu wird ein von der Informationstheorie her motivierter Standpunkt zu entwickeln sein.